Oft nicht sichtbar und dennoch da: Menschen mit Behinderungen und dann noch queer
Mein Name ist Michael Kamphus, und vielleicht kennen mich einige von Ihnen bereits. Ich bin 52 Jahre alt, habe einen Migrationshintergrund, wurde adoptiert, bin geschieden, verwitwet und stolzer Vater zweier erwachsener Töchter. Eine meiner Töchter ist heute hier, um mich zu unterstützen – wofür ich unendlich dankbar bin. Ich hab dich ganz doll lieb! Ich bin ein queerer Mensch mit einer Behinderung – zwei Identitäten, die mein Leben geprägt haben und die ich voller Stolz akzeptiere.
Ich habe zwei abgeschlossene Berufsausbildungen und war vor meiner Erkrankung in der Marktleitung tätig. Heute arbeite ich in einer Werkstatt für behinderte Menschen als Mensch mit einer nicht sichtbaren Behinderung.
Doch was bedeutet es, behindert zu sein – und dazu noch queer? Es bedeutet oft, in den Augen der Gesellschaft als Mensch zweiter oder sogar dritter Klasse betrachtet zu werden. Es bedeutet, sich immer wieder rechtfertigen zu müssen, weil die Behinderung nicht auf den ersten Blick sichtbar ist. Es bedeutet, Vorurteilen zu begegnen, Diskriminierung zu ertragen und ständig gegen ein System anzukämpfen, das uns oft nicht gleichstellt, sondern klein hält.
Das Grundgesetz: Ein Versprechen für alle
Unser Grundgesetz stellt klar: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Es ist der erste Satz unseres höchsten Gesetzes und zugleich der wichtigste. Es ist ein Versprechen, das uns allen gilt – unabhängig davon, ob wir eine Behinderung haben, queer sind, alt, jung, arm oder reich.
Doch was bedeutet dieses Versprechen im Alltag? Bedeutet es, dass wir alle gleich behandelt werden? Bedeutet es, dass wir alle dieselben Chancen haben? Leider nicht. Wir sind weit davon entfernt, dass die Würde aller Menschen tatsächlich unantastbar ist. Für viele Menschen mit Behinderungen ist dieses Versprechen noch immer ein ferner Traum.
Es ist unsere Aufgabe – als Gesellschaft, als Gemeinschaft und als Einzelne –, dafür zu sorgen, dass dieses Grundrecht nicht nur auf dem Papier existiert, sondern auch im Alltag gelebt wird. Es ist unsere Verantwortung, sicherzustellen, dass niemand aufgrund seiner Behinderung oder Identität diskriminiert wird. Dass niemand ausgeschlossen oder zurückgelassen wird.
Ein Blick in die Geschichte
Die Geschichte zeigt, wie tief die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen verankert war – und leider teilweise immer noch ist. In einer der dunkelsten Zeiten unserer Geschichte wurden wir als „lebensunwert“ klassifiziert. Über 300.000 Menschen mit Behinderungen wurden in Deutschland systematisch ermordet. Man hat uns weggesperrt, angeblich zu unserem Schutz versteckt, gequält, zwangssterilisiert und ausgelöscht.
Auch wenn diese Verbrechen Jahrzehnte zurückliegen, dürfen wir nicht vergessen, dass Diskriminierung und Ungerechtigkeit gegenüber Menschen mit Behinderungen immer noch existieren. Sie sind subtiler geworden, aber sie sind da: in Vorurteilen, in Barrieren und in Systemen, die uns benachteiligen.
Mehrfachdiskriminierung: Behinderung und Queerness
Die Erfahrung von Diskriminierung ist mir vertraut – auf mehreren Ebenen. Als Mensch mit einer Behinderung werde ich oft reduziert auf das, was ich angeblich nicht kann. Doch es bleibt nicht dabei. Als queerer Mensch bin ich zusätzlich mit Vorurteilen gegenüber meiner sexuellen Orientierung und Identität konfrontiert.
Queer und behindert zu sein, ist für viele Menschen unvorstellbar. Es ist, als würden sie sagen: „Das passt doch nicht zusammen.“ Genau diese Haltung zeigt das eigentliche Problem: Menschen wie ich passen nicht in die engen Schubladen, die die Gesellschaft für uns bereithält.
Diese Mehrfachdiskriminierung hat viele Gesichter. In der queeren Community fehlt es oft an Barrierefreiheit und an einem Bewusstsein für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen. Und in der Welt der Menschen mit Behinderungen wird Queerness häufig ignoriert oder tabuisiert.
Doch ich bin beides – queer und behindert. Und ich bin stolz darauf. Denn es sind diese Identitäten, die mich zu dem Menschen machen, der ich bin.
Eine Realität, die uns alle betrifft
Behinderung wird oft als etwas wahrgenommen, das nur „die anderen“ betrifft. Doch das ist ein Irrtum. Niemand von uns ist davor gefeit, selbst in eine ähnliche Situation zu geraten. Eine Krankheit, ein Unfall, das Alter – das alles kann unser Leben von heute auf morgen verändern.
Was heute als das „Schicksal der anderen“ wahrgenommen wird, kann morgen schon die eigene Realität sein. Genau deshalb ist es so wichtig dass wir für eine inklusive Gesellschaft kämpfen. Eine Gesellschaft, in der alle Menschen, unabhängig von ihren Fähigkeiten, ihrer Herkunft oder ihrer Identität, respektiert und gleichberechtigt behandelt werden.
Eine Gesellschaft, in der wir uns gegenseitig unterstützen. Eine Gesellschaft, die niemanden zurücklässt.
Das System, das uns ausgrenzt
Ein konkretes Beispiel für die Herausforderungen, denen ich begegne, ist die Werkstatt, in der ich arbeite. Für viele Menschen wie mich ist sie keine wirkliche Chance, sondern eher eine Sackgasse. Die Entgelte der Beschäftigten werden gekürzt, während die Gehälter der Geschäftsführung steigen. Das ist nicht nur ungerecht, sondern widerspricht dem Grundgedanken der Teilhabe.
Unsere Arbeit wird oft nicht als gleichwertig angesehen. Sie wird als billige Beschäftigung abgetan. Doch wir leisten einen wichtigen Beitrag – und wir verdienen Respekt und Anerkennung wie jeder andere Arbeitnehmer auch. Teilhabe bedeutet nicht nur, irgendwo beschäftigt zu sein, sondern echte Perspektiven zu haben und als gleichwertig wahrgenommen zu werden.
Das Recht auf Selbstbestimmung und Identität
Menschen mit Behinderungen kämpfen noch immer darum, Entscheidungen über ihr eigenes Leben treffen zu können – sei es in der Arbeit, im Wohnen oder in der Freizeit. Doch Selbstbestimmung umfasst noch mehr. Sie schließt auch das Recht auf sexuelle und geschlechtliche Identität ein.
Als queerer Mensch mit einer Behinderung erlebe ich, wie oft diese Aspekte einfach ignoriert werden. Menschen mit Behinderungen werden oft als asexuell oder geschlechtslos wahrgenommen. Gleichzeitig wird Queerness in der Welt der Menschen mit Behinderungen häufig als irrelevant angesehen.
Doch unsere Identitäten sind genauso wichtig wie die von jedem anderen Menschen. Sie sind ein Teil von uns, und sie verdienen Respekt und Akzeptanz.
Wir haben das Recht, unsere Sexualität und Identität frei zu leben, ohne dafür stigmatisiert oder ausgegrenzt zu werden.
Wir alle haben das Recht, zu lieben und geliebt zu werden. Doch Menschen mit Behinderungen wird dieses Recht oft stillschweigend abgesprochen. Man sieht uns häufig nicht als vollwertige Individuen, die nach Nähe, Intimität und Familie streben – sondern als asexuell, kindlich oder „anders“.
Die Gefahr von Rückschritten
Ja, es hat sich einiges getan. Wir haben das Grundgesetz, das die Würde des Menschen schützt. Wir haben die UN-Behindertenrechtskonvention, die uns gleiche Rechte garantiert. Und wir haben das Bundesteilhabegesetz, das Inklusion fördern soll.
Doch Errungenschaften können schnell verloren gehen, wenn wir sie nicht schützen. Rückschritte sind immer möglich.
Am 23. Februar haben wir die Chance, eine Entscheidung für die Zukunft zu treffen. An diesem Tag entscheiden wir nicht nur über Parteien oder Programme, sondern über den Kurs, den unsere Gesellschaft nehmen soll. Wollen wir eine Gesellschaft, die Vielfalt, Inklusion und Respekt fördert? Oder wollen wir zulassen, dass Hass, Ausgrenzung und Ungerechtigkeit wieder mehr Raum bekommen?
Unsere Verantwortung für die Zukunft
Die Zukunft unserer Gesellschaft liegt in unseren Händen. Jeder von uns trägt Verantwortung.
Wir müssen die Barrieren in den Köpfen abbauen. Wir müssen dafür sorgen, dass niemand zurückgelassen wird. Denn eine gerechte Gesellschaft ist nur möglich, wenn alle Menschen die gleichen Chancen haben – unabhängig von ihrer Behinderung, ihrer Identität oder ihrer Herkunft.
Das Grundgesetz gibt uns die Grundlage. Aber wir müssen es mit Leben füllen.
Lassen Sie uns gemeinsam für eine Zukunft stimmen, in der jede*r Einzelne zählt. Stimmen wir für eine Gesellschaft, die niemanden zurücklässt. Stimmen wir für eine Gesellschaft, die erkennt, dass jeder Mensch wertvoll ist.
Vielen Dank